Dass der Mensch in der Lawinenkunde ein entscheidender Faktor ist, wissen wir. Werner Munter war der Erste, der mit seiner Methode 3×3 darauf aufmerksam machte. Aber durch vereinfachte Methoden wie die Grafische Reduktionsmethode (GRM) trat der Faktor Mensch eher wieder in den Hintergrund. Dafür rückten die Lawinengefahrenstufe und Hangneigung ins Zentrum.
Später untersuchte der amerikanische Lawinenforscher Ian McCammon Fehler, die beim Entscheiden gemacht werden. Er beschrieb die wichtigsten Fallen, die beim Anwenden von Faustregeln im Lawinengelände auftreten können und fasste sie unter dem Akronym FACETS zusammen. Seine Forschung floss in viele Lawinenlehrbücher ein. Das SOCIAL ist die Schweizer Version davon.
Wer leichter glaubt, wir schwerer klug
Wenn es, scheinbar wider besseres Wissen, danebengeht, liegt das oft an der Art und Weise, wie wir entscheiden. In komplexen Situationen, in denen wir über unvollständige Information verfügen (bspw. Splitboardtour bei ungünstiger Lawinensituation), halten wir uns bei Entscheidungen häufig an angewöhnte Regeln, die schon oft funktioniert haben und die wir, besonders im Eifer des Gefechts, nicht hinterfragen. In der Psychologie nennt man diese Art von vereinfachender mentaler Problemlösung Heuristik. Heuristische Vorgehensweisen stehen dabei im Gegensatz zu Algorithmen, die Lösungen garantieren, ohne auf subjektive Erfahrungswerte oder andere gedankliche „Daumenregeln“ zurückzugreifen. Heuristiken können sehr nützlich sein und führen oft schneller zu einem Ergebnis, sie sind aber auch anfälliger für Fehleinschätzungen. lan McCammon hat mit den FACETS einige spezielle Heuristiken genauer definiert, die häufig am Berg zum Einsatz kommen und gefährlich werden können. Siehe dazu die Box mit der Erklärung weiter oben..
Wir haben eine bestimmte Wahrnehmung der Schnee- und Wettersituation und des Geländes und eine Vorstellung davon, was wir heute machen wollen.
Unser intuitives Denken möchte unsere Wünsche erfüllen und steuert Entscheidungen in Richtung der Wunscherfüllung: Wenn ich diesen Hang fahren will, konzentriere ich mich unbewusst auf die Argumente, die dafür sprechen.
Lösungsansätze: strategische Selbsterkenntnis
Steilrinnenfahren im Pulverschnee, unberührte Steilhänge nur für uns, Jumps und Wächten abseits der Piste. Dem gegenüber steht die Angst vor dem Lawinentod. Unsere Entscheidungen sind dabei durch das geprägt, was wir erreichen wollen.
Im Lawinenkontext geht es primär darum, so zu entscheiden, dass das Risiko auf ein akzeptables Mass reduziert wird. Wir reagieren damit nicht in erster Linie auf die Begehrlichkeiten, die uns überhaupt erst an den Berg bringen (steiler Powderhang), sondern auf die Angst vor den möglichen Konsequenzen (Lawine). Atkins setzt in seinen Überlegungen auf der anderen Seite der Gleichung an:
Wenn wir unsere Wünsche und Erwartungen flexibel an die Bedingungen anpassen können, steuern wir auch die Überlegung, also die Erwartungshaltung, und damit das Risiko.
- Selbsterkenntnis. Je besser wir verstehen, was wir tun und warum, desto mehr Handlungsspielraum haben wir, daran etwas zu ändern.
- Optionen schaffen. Nur wenn wir mehrere gleich attraktive Optionen haben (selection of desires), können wir:
- Die eigenen Wunschvorstellungen und Erwartungen der Situation anpassen.
Die Crux liegt wohl in Punkt 2. Es geht nicht in erster Linie darum, konkrete Tourenziele an die Bedingungen anzupassen, da das die zugrunde liegende Motivation nicht ändert. Ich will Powder fahren, aber heute ist es kritisch, also suche ich einen nicht ganz so steilen Powderhang.
Neueste Kommentare