… Dann ist dieser Artikel genau das Richtige für dich.

Ich behaupte, dass du glaubst zu wissen, aber in Wirklichkeit liegst du falsch. Diese doch provokante Aussage über dein Wissen zur Lawinenthematik ist sicher gewollt. Speziell da ich dein Nivea dahin gehend ja nicht kenne. Dennoch ist die Chance sehr hoch, dass ich recht habe.

Der Dunning-Kruger-Effekt bezeichnet die kognitive Verzerrung im Selbstverständnis inkompetenter Menschen, das eigene Wissen und Können zu überschätzen. Diese Neigung beruht auf der Unfähigkeit, sich selbst mittels Metakognition objektiv zu beurteilen. Der Begriff geht auf eine Publikation von David Dunning und Justin Kruger im Jahr 1999 zurück. Gerade in der Coronazeit ein Phänomen, das mehr bekannt wurde.

Risikoeinschätzungen und entsprechende Entscheidungen am Berg sind kognitiv anspruchsvoll und somit anstrengend, auch wenn man es nicht sieht

Kognitive Anstrengung hat kognitive Kosten. Wie der Körper ermüdet auch der Geist. Und wer müde ist, macht Fehler.

Kognitive Systeme und Verhaltenstheorie erklären die den FACETS zugrunde liegenden Prozesse. Um die nicht ganz stimmige Analogie fortzusetzen: Sie sind quasi die Schneephysik hinter den Lawinenproblemen.

FACETSS – Lawinenprobleme im Kopf

(Akronym für Familiarity, Acceptance, Commitment, Experts, Tracks, Scarcity/Social Facilitation)

F –> Familiarity – das Hausbergproblem.
Ich war hier schon oft, hier ist noch nie etwas passiert, also wird auch nie etwas passieren. Vor allem erfahrene Personen tappen in diese Falle, gewissermassen per definition. Wer das Gelände so gut kennt, dass sich dieser Effekt einstellt, ist kein Anfänger mehr, sondern der klassische „erfahrene Einheimische“.

A –> Acceptance.
Die anderen wollen den Hang fahren, ich möchte von der Gruppe akzeptiert werden.

C –> Consistency (alternativ: Commitment).
Falle der versunkenen Kosten. Wir haben diese Tour geplant, also ziehen wir sie jetzt durch; wir haben uns für diesen Gipfel entschieden und schon viel Zeit für den Zustieg investiert, also drehen wir nicht kurz vor dem Ziel um.

E –> Expert Halo.
Jemand in der Gruppe kennt sich (vermeintlich) besser aus oder ist besonders selbstsicher. Der/die wird schon wissen, was er/sie tut, meine Bedenken sind unbegründet.

T –> Tracks.
Andere fahren hier auch, es sind schon Spuren im Hang.

S –> Scarcity.
Ich habe nur heute frei und möchte den Tag richtig ausnutzen; ich will vor allen anderen da hineinfahren; es hat lange nicht geschneit und jetzt gibt es endlich Powder …

Als alternatives S gilt Social Facilitation: In der Gruppe verhalten wir uns anders als allein. Besonders Experten sind hier anfällig. Mit gleich fitten, gleich erfahrenen Kollegen pusht man einander eher, als dass man einander bremst.

–> FACETS

SOCIAL – ein Gruppen-Check-Tool

Das Schweizer Gruppen-Check-Tool trägt den Namen SOCIAL. Es ist das Ergebnis und eines der Ziele einer Doktorarbeit zu gruppendynamischen Faktoren, welche die Entscheidungen von Wintersportlern im Lawinengelände beeinflussen.

Skills –> Was kann das schwächste Gruppenmitglied?
– Gibt es grosse Unterschiede im Können in der Gruppe?
– Wie ist das Können im Umgang mit
Sicherheitsausrüstung?

Organisation –> Neue oder etablierte Gruppenzusammensetzung
– Passt die Gruppengrösse zur Schwierigkeit der Tour?
– Sind die Rollen der Gruppenmitglieder klar?

Communication –> Findet eine offene Diskussion zur Lawinensituation statt?
– Werden Entscheide klar kommuniziert
– Werden Bedenken offen ausgesprochen.

Identification –> Sind die Erwartungen geklärt?
– Existieren Alternativen?
– Ist jeder mit den getroffenen Entscheidungen
einverstanden?

Anomalies –> Würde man allein gleich entscheiden?
– Sind Wahrnehmungsfallen vorhanden?
– Sind andere Gruppen präsent?

Leadership –> Hat die Gruppe einen geeigneten Führer?
– Kommuniziert dieser offen und klar?
– Gibt es Vertrauen zwischen Führer und Teilnehmer?

Das Gruppen-Check-Tool SOCIAL ist auf Deutsch und Französisch im praktischen Kreditkartenformat erhältlich. Die Kärtchen können direkt beim SLF (sekretariat@slf.ch oder Tel. 081 417 01 11) bezogen werden und stehen somit für Lawinenkurse oder auch für die private Skitour zur Verfügung.

Dass der Mensch in der Lawinenkunde ein entscheidender Faktor ist, wissen wir. Werner Munter war der Erste, der mit seiner Methode 3×3 darauf aufmerksam machte. Aber durch vereinfachte Methoden wie die Grafische Reduktionsmethode (GRM) trat der Faktor Mensch eher wieder in den Hintergrund. Dafür rückten die Lawinengefahrenstufe und Hangneigung ins Zentrum.

Später untersuchte der amerikanische Lawinenforscher Ian McCammon Fehler, die beim Entscheiden gemacht werden. Er beschrieb die wichtigsten Fallen, die beim Anwenden von Faustregeln im Lawinengelände auftreten können und fasste sie unter dem Akronym FACETS zusammen. Seine Forschung floss in viele Lawinenlehrbücher ein. Das SOCIAL ist die Schweizer Version davon.

Wer leichter glaubt, wir schwerer klug

Wenn es, scheinbar wider besseres Wissen, danebengeht, liegt das oft an der Art und Weise, wie wir entscheiden. In komplexen Situationen, in denen wir über unvollständige Information verfügen (bspw. Splitboardtour bei ungünstiger Lawinensituation), halten wir uns bei Entscheidungen häufig an angewöhnte Regeln, die schon oft funktioniert haben und die wir, besonders im Eifer des Gefechts, nicht hinterfragen. In der Psychologie nennt man diese Art von vereinfachender mentaler Problemlösung Heuristik. Heuristische Vorgehensweisen stehen dabei im Gegensatz zu Algorithmen, die Lösungen garantieren, ohne auf subjektive Erfahrungswerte oder andere gedankliche „Daumenregeln“ zurückzugreifen. Heuristiken können sehr nützlich sein und führen oft schneller zu einem Ergebnis, sie sind aber auch anfälliger für Fehleinschätzungen. lan McCammon hat mit den FACETS einige spezielle Heuristiken genauer definiert, die häufig am Berg zum Einsatz kommen und gefährlich werden können. Siehe dazu die Box mit der Erklärung weiter oben..

Wir haben eine bestimmte Wahrnehmung der Schnee- und Wettersituation und des Geländes und eine Vorstellung davon, was wir heute machen wollen.

Unser intuitives Denken möchte unsere Wünsche erfüllen und steuert Entscheidungen in Richtung der Wunscherfüllung: Wenn ich diesen Hang fahren will, konzentriere ich mich unbewusst auf die Argumente, die dafür sprechen.

Lösungsansätze: strategische Selbsterkenntnis

Steilrinnenfahren im Pulverschnee, unberührte Steilhänge nur für uns, Jumps und Wächten abseits der Piste. Dem gegenüber steht die Angst vor dem Lawinentod. Unsere Entscheidungen sind dabei durch das geprägt, was wir erreichen wollen.

Im Lawinenkontext geht es primär darum, so zu entscheiden, dass das Risiko auf ein akzeptables Mass reduziert wird. Wir reagieren damit nicht in erster Linie auf die Begehrlichkeiten, die uns überhaupt erst an den Berg bringen (steiler Powderhang), sondern auf die Angst vor den möglichen Konsequenzen (Lawine). Atkins setzt in seinen Überlegungen auf der anderen Seite der Gleichung an:

Wenn wir unsere Wünsche und Erwartungen flexibel an die Bedingungen anpassen können, steuern wir auch die Überlegung, also die Erwartungshaltung, und damit das Risiko.

  1. Selbsterkenntnis. Je besser wir verstehen, was wir tun und warum, desto mehr Handlungsspielraum haben wir, daran etwas zu ändern.
  2. Optionen schaffen. Nur wenn wir mehrere gleich attraktive Optionen haben (selection of desires), können wir:
  3. Die eigenen Wunschvorstellungen und Erwartungen der Situation anpassen.

Die Crux liegt wohl in Punkt 2. Es geht nicht in erster Linie darum, konkrete Tourenziele an die Bedingungen anzupassen, da das die zugrunde liegende Motivation nicht ändert. Ich will Powder fahren, aber heute ist es kritisch, also suche ich einen nicht ganz so steilen Powderhang.

Was ist die Gefahrenstufe?

Vor über 25 Jahren haben sich die Lawinen-warndienste Europas auf eine gemeinsame Lawinengefahrenstufenskala geeinigt. Sie umfasst fünf Stufen, wovon in der Praxis für den Schneesport nur die unteren vier Stufen relevant sind. Die Gefahrenstufe hängt gemäss Definition von den folgenden drei Faktoren ab:

–> Schneedeckenstabilität (sehr schwach, schwach, mittel, gut)

–> Häufigkeit der Gefahrenstellen (keine, wenige, einige, viele)

–> erwartete Lawinengrösse (klein, mittel, gross, sehr gross, extrem gross)

Meine persönliche Herangehensweise

Ist man abseits der Pisten unterwegs, entsteht ein Lawinenrisiko. Ob man es will oder nicht…
Meine herangehensweise: 

  • Risiko für ein mögliches Tourenziel in einer Region anhand der Gefahrenstufe abschätzen, 
  • dann vor Ort schauen, ob ich das ausgegebene Lawinenproblem bzw. die Warnungen aus der Gefahrenbeurteilung und dem Schneedeckenteil im LLB wiederfinde. 
  • Und dann ganz einfach das Gelände so schlau wie möglich nutzen: unter 30 Grad im Aufstieg bleiben, Geländefallen meiden, steile Sachen nur einzeln fahren, sichere Haltepunkte ausmachen.

 

Menschliche Faktoren sind der Kern des Risikos.

Betrachtet man winterlichen Bergsport als Spiel, bedeutet ein Lawinenunfall, dass man verloren hat. Wir spielen aber in der Regel nicht, um nicht zu verlieren. Dieses Ziel wäre einfacher zu erreichten.

Die Freude zur Alternative ist kein Verzicht vom Geplanten.

Wie sieht es bei dir aus? In welcher Heuristik bist du gefangen? Freue mich auf einen Kommentar von dir.

niki the guide

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